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Beitragsseiten

21. Mai 2001

In der Todeszone: Sturm am Südsattel

46. Tag der Expedition. 46 Tage Entbehrungen. 46 Tage Hoffnungen. 46 Tage Ängste. Und jetzt könnte auf einmal alles ganz schnell gehen. Ärzte und Fachleute haben das, was jetzt bevorsteht, den Vorstoß in die "Todeszone" genannt. In Höhen oberhalb von 8000 Metern über dem Meeresspiegel ist ein Überleben nur noch für ein paar Stunden möglich. Und auch nur dann, wenn der Körper entsprechend auf große Höhen akklimatisiert ist.
An Erholung ist nicht mehr zu denken. Muskeln und Organe schaffen es nicht mehr, sich zu regenerieren. Der Körper hat auf "Notbetrieb" umgeschaltet. Und diese Notversorgung beschränkt sich darauf, die wichtigsten Funktionen zu erhalten. Der Durst ist noch da. Aber Hunger leiden die Kletterer nicht. Die Ausscheidung körpereigener Säfte ist praktisch eingestellt. Richtiges Leben ist das nicht mehr da oben. Allenfalls noch ein Dahinvegetieren. Schnelligkeit ist jetzt die entscheidende Trumpfkarte. Schnelligkeit! Je kürzer sich die Bergsteiger in der gefährlichen Zone aufhalten, umso geringer ist die Gefahr bleibender organischer Schäden oder schwerer Erfrierungen. Dieter Porsche, Peter Guggemos und Helmut Hackl kommen auf dem erneut enorm steilen Weg erstaunlich schnell voran. Schon zum Sonnenaufgang erreichen sie das so genannte "Gelbe Band", einen markanten Punkt in einer Höhe von 7.700 Metern. Danach zieht ein weiterer steiler Aufschwung hinauf zu einer exponierten Querung zum eigentlichen Südsattel, der von den Bergsteigern despektierlich als die "höchstgelegene Müllkippe der Welt" bezeichnet wird. Doch dem ist schon lange nicht mehr so. In den vergangenen Jahren wurde tonnenweise der Unrat vom Berg geschafft. (Wir haben an anderer Stelle schon einmal über die enormen Leistungen der Sherpas bei der Müllbeseitigung berichtet.) Wer in den Alpen schon einmal beim Bergsteigen war, der weiß, was ein "Jochwind" ist. Doch so ein kräftiger Jochwind ist allenfalls ein laues "Lüfterl" gegen den Sturm, der fast täglich über den Südsattel des Everest bläst. Der tiefste Punkt zwischen Lhotse und Everest gilt gemeinhin unter Bergsteigern als "die Hölle auf Erden".
Ohne die dicken, unförmigen, aber schließlich doch mollig warmen Daunenanzüge, geht dort oben, auf annähernd 8000 Metern nichts mehr. Der Südsattel ist riesig groß. Hunderte Zelte würden dort notfalls Platz finden. Doch die wenigsten der ambitionierten Bergsteiger aus aller Welt kommen überhaupt bis dorthin. Und so verlieren sich an diesem klirrend kalten Nachmittag des 21. Mai 2001 nur rund zwanzig Zelte auf dem Südsattel des Mount Everest im Lager IV. Dieser "Southcol" ist der alles entscheidende Ausgangspunkt für die letzte Etappe. In der Abendsonne fällt unser Blick hinaus auf die atemberaubende Bergwelt Nepals, aber auch hinein in die gesamte Aufstiegsroute zum Gipfel des Mount Everest. Während Peter, Dieter und Helmut sich dankbar in die Zelte und dort in die Schlafsäcke zurückziehen und dem geplanten mitternächtlichen Aufbruch entgegendämmern, ist weit unten im Basislager Christian angekommen. Er ist restlos "ausgepowert", eigentlich am Ende seiner Kräfte. Und dennoch, seinen sehnlichsten Wunsch kann er noch aussprechen, bevor auch er in stundenlangen Tiefschlaf fällt: "Eine Wildsoße, das wäre es jetzt. Aber mit ausreichend Knödel!" Es sind daran besteht kein Zweifel, die ganz großen Kleinigkeiten, die das Leben lebenswert machen, auch und gerade am Mount Everest.

22. Mai 2001

Gipfelanstieg: Tag der Entscheidung

Seit vielen Jahren ist es am höchsten Berg der Erde üblich, gegen Mitternacht, im schmalen Schein der Stirnlampen in Richtung Gipfel aufzubrechen. Das hat einen guten Grund. Der Südtiroler Extrembergsteiger Hans Kammerlander, der sich in diesen Tagen anschickt, seinen 13. Achttausender, den K2 in Pakistan, zu besteigen, hat einmal sehr treffend formuliert: "Der Gipfel gehört dir erst, wenn du wieder herunten bist."
Das, genau das ist eines der größten Probleme auch am Mount Everest. Den Erfolg vom Gipfel wieder hinunter ins Tal zu tragen, das ist die eigentliche Aufgabe. Die enorme Müdigkeit zu überwinden und die letzten Reserven zu mobilisieren, um dann auch den Weg in sichere Gefilde zu finden, beschäftigt die Bergsteiger sehr intensiv und das macht bei den meisten von ihnen auch die wirkliche Angst aus. Vor diesem Hintergrund spielt der Faktor Zeit beim Gipfelgang eine ganz entscheidende Bedeutung.
Da vor allem in den Nachmittagsstunden starke Höhenstürme und häufig auch Schneefälle durch die Wolkenbildung drohen, gilt als Fixpunkt für die Umkehr oder das Erreichen des Gipfels die Mittagsstunde oder allerspätestens 14 Uhr. Die sträfliche Missachtung dieser Umkehrzeit führte 1996 zu der hinlänglich bekannten Katastrophe am Everest, bei der binnen weniger Stunden sechs Bergsteiger um Leben kamen. Peter Guggemos, Dieter Porsche und Helmut Hackl dämmern seit Stunden in den Zelten vor sich hin. Sie schmelzen Schnee und kochen Tee. Diese Nacht oder besser gesagt dieser Abend vom 21. auf den 22. Mai dehnt sich endlos. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Im Geiste wird immer und immer wieder jeder einzelne Handgriff durchgespielt.
Der geringste Fehler in dieser Höhe könnte den sicheren Tod oder zumindest schwere Erfrierungen bedeuten. Die deutschen Bergsteiger gehen kein Risiko ein. Sie haben die Atemmasken vor dem Gesicht und atmen künstlichen Sauerstoff aus den markant orangefarbenen Flaschen. Schon zu diesem Zeitpunkt, in einer ruhenden Lage des Körpers, gibt es jedoch massive Probleme mit der ungewohnten Technik. Peter, Dieter und Helmut haben ihre bisherigen Achttausender konsequent ohne die Hilfe von künstlichem Sauerstoff bestiegen.
Doch am höchsten Berg der Welt ist das Risiko bleibender Schäden durch zu langen Aufenthalt in der "Todeszone" zu groß. Gegen halb zehn am Abend des 21. Mai beginnen die Drei wieder mit der mühseligen Prozedur des Kochens. Es geht dabei nicht mehr um die Zubereitung von Essen. Hunger hat keiner. Die Zufuhr von Flüssigkeit ist nun der entscheidende Punkt. Und so versuchen sich die drei wie Kamele mit Flüssigkeit "volllaufen" zu lassen. Viel mehr als einen Liter werden sie später kaum mit sich tragen können.
Um 23.30 Uhr stehen sie vor ihren Zelten. Die Steigeisen kratzen über den festgefrorenen Firn. Nach einem Flachstück beginnt der Aufstieg. Die Regler an den Sauerstoffflaschen sind auf zwei Liter pro Minute eingestellt. Das ist nicht viel, aber genügt, um das Gehirn und die Vitalkräfte des Körpers mit ausreichend Lebenselixier zu versorgen. Die drei deutschen Bergsteiger und ihre drei Sherpas kommen gut voran. Doch was sich schon in der Nacht andeutete, entwickelt sich immer mehr in eine fatale Richtung. Die Atemmaske wirkt in negativer Hinsicht: Zum einen haben die Kletterer das Gefühl, das sie bisweilen ersticken, zum anderen ist das Sichtfeld extrem eingeschränkt. Dieter klagt darüber, dass er nicht erkennen kann, wo er seine Füße hinsetzt. Und das in über 8000 Metern Höhe. Dann wieder drückt die Maske gegen die Brille und sorgt für weitere Einschränkungen. Nach und nach verfluchen die Drei die eigentlich hilfreichen künstlichen Hilfsmittel. Und dennoch, stetig geht es voran. Fixseile werden verlegt und somit die Route zum Gipfel zum ersten Mal bestiegen.
Die ganze Nacht über bläst ein eisiger Wind. Er wirbelt Eiskristalle auf, die die wenigen freien Hautpartien treffen wie Peitschenhiebe. Und weiterhin machen den drei deutschen Bergsteigern die ungewohnten Atemmasken zu schaffen. Peter dreht bei etwa 8400 Meter Höhe um. Schier unerträgliche Rückenschmerzen, deren Ursache er sich selbst Tage später nicht erklären können wird, zwingen ihn zur Aufgabe und zum direkten Abstieg bis ins Lager II. Dieter und Helmut streben derweil weiterhin dem Gipfel entgegen. Doch die Zeit rinnt unaufhaltsam dahin. Vor allem das Verlegen der meist unentbehrlichen Fixseile "frisst" Stunde um Stunde. Gegen 10 Uhr erreichen die beiden zusammen mit den Sherpas den sogenannten Südgipfel auf 8751 Metern. Dort geht das Material zu Ende: Keine Fixseile mehr, keine Firnanker und keine Eisschrauben. Dawa Chiri, Chef des deutschen Sherpa-Teams, trifft die Entscheidung: Umkehr! Eine Fortsetzung des Gipfelanstieges ohne weitere Sicherungen erachtet er als viel zu gefährlich und unter den gegebenen Verhältnissen nicht machbar. Auch so etwas passiert am Everest. Die deutsche Expedition hat den Weg bis zum Südgipfel "freigemacht", hat sich aufgerieben in einer Situation, die sonst den "großen" Expeditionen vorbehalten bleibt. Die Umkehr fällt schwer, zumal mit der Gewissheit, dass es nur wenige Stunden, vielleicht einen Tag, dauern wird, bis andere Bergsteiger in dieser Spur und an den neuen Fixseilen mit mehr Erfolg dem Gipfel entgegenstreben werden. Das ist bitter. Doch es ändert nichts an dem Entschluss der Vernunft. Dieter schläft noch einmal am Südsattel. Es hat fast den Anschein, als wolle er all das Geschehene nicht wahrhaben. Helmut will nur noch hinunter. Er fasst den direkten Abstieg ins Basislager ins Auge, bleibt aber dann noch im Lager II, wo er auf Peter, den Expeditionschef trifft. Die Enttäuschung ist ihnen allen anzumerken.

23. - 26. Mai 2001

Basislager: Die letzten Tage und der Aufbruch

Es herrscht Aufbruchstimmung im deutschen Camp. Für Helmut Hackl und Christian Rottenegger ist nach der Rückkehr klar, dass sie keinen Versuch mehr starten werden. Als Peter Guggemos und Dieter Porsche im Zeltdorf ankommen, scheint klar, dass es das für die beiden noch nicht gewesen sein kann.
Sie haben die entscheidenden Ausrüstungsgegenstände in den Hochlagern zurückgelassen. Sie sind entschlossen, noch einen Versuch zu wagen. Die Überlegungen währen bis zum 25. Mai, dann muss eine Entscheidung gefällt werden. Links oder rechts, rauf oder runter, Risiko oder Sicherheit? Die Überlegung geht dahin, einen Blitzanstieg zu riskieren. Vom Basislager ins Lager II, von dort direkt zum Südsattel und dann zum Gipfel.
Ohne Gepäck, ohne künstlichen Sauerstoff, ohne Sicherheitskette nach unten. Doch zu diesem Zeitpunkt wären sämtliche anderen Expeditionen vom Berg herunter. Hilfe in einer Notsituation wäre nicht zu erwarten. Darüber hinaus sind Peter und Dieter noch nicht wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte. Und auch die Wetteraussichten versprechen nichts wirklich Gutes für die letzten Tage der Saison.
Und so fällt am Vormittag des 25. Mai, nach 50 Tagen am Fuß des Mount Everest die schwere Entscheidung: Die deutsche Everest-Expedition 2001 ist zu Ende. Die vier verbliebenen Bergsteiger werden am 26. Mai den Heimweg antreten.
Sie nehmen großartige Eindrücke mit nach Hause, Eindrücke aus einem Land voller Gastfreundlichkeit und von einem Berg, der keine Fehler verzeiht, seien es nun persönliche oder taktische. Auch dieses Tagebuch wird nun zugeklappt. Wir alle hoffen, dass es ein paar interessante Einblicke in die Welt der ganz hohen Berge gewährt hat. Alle Mitglieder dieser Expedition haben mit ihren Schilderungen, Erfahrungen und Berichten zum Entstehen dieser Zeilen mitgewirkt.
Dass diese Expedition zum höchsten Berg der Erde nicht zu einem erfolgreichen Ende auf dem Gipfel geführt hat, mag manch einen betrüben, wichtiger jedoch ist allein die Tatsache, dass niemand zu Schaden gekommen ist!

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